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Ein Stück Paradies

Das Bergland Zentralasiens lebt von Kontrasten: karge Berglandschaften bis hin zu leuchtenden Mohnfeldern, von Adlerjägern bis zu Fastfood-Ketten in der Hauptstadt.

Als Gott die Welt schuf und das Land an die Völker verteilte, kamen die Kirgisen zu spät. Doch er hatte Erbarmen und gab ihnen einen Teil seines Paradieses ab. So zumindest die etwas selbstironische Legende. Doch bei der Fahrt auf 1600 Meter über Meer rund um den zweitgrössten Bergsee der Welt, dem Yssykköl-See, wird klar, dass das nicht von ungefähr
kommt: Das Wasser funkelt in der Sonne, dahinter wechselnde Berglandschaften. Liebliche Lehmberge, rote Sandsteinfelsen und weisse Schneeberge. Der Yssykköl-See ist eingekesselt zwischen zwei Bergketten – nördlich der Kungej-Alatau und südlich der Terskej-Alatau mit Bergspitzen, die viereinhalbtausend Meter in die Höhe ragen.

Genauso vielfältig ist die Kultur. Die Seidenstrasse brachte chinesische und arabische Einflüsse in die Region. Brutalistische Gebäude und Skipisten sind Überbleibsel der Sowjetischen Vergangenheit. Und trotzdem findet sich in der Hauptstadt auch der Fastfood-Klassiker Kentucky Fried Chicken. Die alten nomadischen Traditionen sind aber seit der Unabhängigkeit 1991 wieder wichtiger. So leben im Land 50 staatlich anerkannte Adlerjäger. Festgehalten sind die Bräuche im Epos «Manas», das mündlich von Generation zu Generation weitergegeben wurde.

Extremes Klima

Rund um den Yssiköl-See ein Spektakel an herbstlichen Farben: Pappeln, Aprikosen- und Apfelbäume färben die Landschaft orange. Im Sommer sind die Weiden mit Mohnblumen überzogen. Höher in den Bergen wachsen Enzian und Edelweiss. Botanisch hat das Land aber noch mehr zu bieten: Kirgisistan verfügt über die grössten Nusswälder der Welt. In diesen tummeln sich Hirsche, Wildschweine, Luchse und Wölfe. Auch Bären ziehen durch das Land. 80 Prozent der
Landesfläche liegen über 1500 Metern Höhe. Im Tian Shian (himmlisches Gebirge) liegt der höchste Gipfel Kirgisistans. Der Dschengisch Tschokusu, ehemals Pik Lenin, ist 7439 Meter hoch. Im Gebirge lebt auch das Nationaltier: der Schneeleopard. Seine Population wird auf 300 Individuen geschätzt. Murmeltiere gibt es dagegen im Überfluss – die Einheimischen nennen das Land liebevoll auch «Murmelstan». Kirgisistan ist fünfmal so gross wie die Schweiz, hat
aber nur sieben Millionen Einwohner. Das wird einem spätestens bei Fahrten durch die Bergtäler und -schluchten bewusst: kein Mensch in Sicht. Nur unberührte Natur. Sie hat einen wichtigen Stellenwert im Leben der Kirgisen. Obwohl der Islam die vorherrschende Religion des Landes ist, spielen auch Naturreligionen eine wichtige Rolle. Mutter Erde und Vater Himmel bestimmen das Leben. Das Klima Kirgisistans ist kontinental geprägt und semiaride: Die Sommer sind kurz und heiss, die Winter lang und kalt. Niederschlag gibt es aber eher selten – auch nicht die einfachsten Lebensbedingungen.

Kultureller Spagat

Bis 1925 lebte ein Grossteil des Volkes nomadisch und zog mit dem Vieh von Weide zu Weide. Als Teil der Sowjetunion wurde aber die Schulpflicht und damit die Sesshaftigkeit eingeführt. Heute leben im Land nur noch Halbnomaden – im Sommer flüchten sie mit ihren Tieren vor der Hitze in die Berge. Manchmal schlafen sie noch in der Jurte. Fast 80 Prozent der Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft bzw. in der Viehwirtschaft oder im Gemüseanbau. Industrie gibt es nur wenig. Mit der neuen Seidenstrasse Chinas soll sich das aber ändern. Rund um den Yssykköl-See schlängelt sich eine kilometerlange Baustelle – das soll bald eine vierspurige Autobahn werden. Momentan treiben aber noch Bauern ihre Schafe per Pferd über die Schotterstrasse auf die Weide in der Nähe des Dorfes Tamchy. Zäune sucht man vergebens. Pferde, Schafe und Vieh grasen meist frei in der Herde. Was in der Landschaft aber auffällt, sind eckige Hügel und Ansammlungen von Steinen verschiedener Grössen, teilweise in Kreisen angeordnet. Der zentralasiatische
Staat wurde von unterschiedlichen Kulturen und Völkern geprägt – die Hunnen und Karachaniden hinterliessen ihre Spuren in Form von Gräbern und Grabsteinen, auch Balbas genannt. Die Karachaniden waren Tausend nach Christus das erste Volk, das sich hier niederliess und erste Siedlungen baute. Sie brachten den Islam in das Gebiet. Davon zeugt auch eines der ältesten Minarette Zentralasiens, der Burana-Turm in der Region Tokmok. Die historischen Einflüsse spiegeln sich auch in der Hauptstadt Bishkek wider. In ihrem Herzen liegt der Platz Ala-Too, ehemals Leninplatz. Ala-Too heisst übersetzt «farbige Berge» – der Stolz des Landes. Der Platz ist eingerahmt von würfelförmigen sowjetischen Bauten, darunter auch das historische Museum. Mitten auf dem Platz thront der Flaggenstock, zur 100-jährigen
Feier der kirgisischen Sozialistischen Sowjetrepublik dieses Jahr ganze 100 Meter hoch. Daran flattert die kirgisische Flagge: Roter Grund, der die roten Mohnfelder symbolisiert, und darauf eine gelbe Sonne mit vierzig Zacken. Jeder Zacken steht für einen kirgisischen Stamm. In der Mitte der Sonne ist ein Tündük abgebildet. Es ist das zentrale Element des Daches einer Jurte, welches das Ganze zusammenhält. Weiter vorne auf dem Platz, wo einst die Leninstatue positioniert war, steht jetzt ein Denkmal für das Epos «Manas».

König der Lüfte

In diesem Epos gilt die Adlerjagd als heilig. Die heutigen Adlerjäger zeigen Vorführungen für Touristen, gejagt
wird aber noch immer. Unter anderem Wölfe – von denen hat Kirgisistan zu viele. Die drei Adler Karaschyn, Karakös und Karabarschyn des 38-jährigen Ruslans dürfen diese jagen. Gejagt wird nur mit Steinadlern bzw. nur mit Weibchen. Diese sind grösser und gelten als aggressiver als ihre männlichen Artgenossen. Sie werden bis zu acht Kilogramm schwer und können eine Flügelspannweite von über zwei Metern erreichen. Ruslan holt sich die Adler möglichst mit einem Alter
von eineinhalb Monaten aus dem Nest und dressiert sie langsam. Effektiv gejagt wird von Oktober bis Ende Februar, häufige Beute sind Füchse und Wölfe. Ruslan jagt mit seinen Vögeln und dem Taigan – einem traditionellen kirgisischen Jagdhund.

Adlerjäger Ruslan

Die Kunst der Adlerjagd – Eine jahrhundertealte Tradition Kirgisistans

Die Jagd mit Steinadlern ist eine faszinierende und tief in der Kultur Zentralasiens verwurzelte Tradition. In Kirgisistan wird sie seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben. Ruslan, ein erfahrener Adlerjäger, gewährt spannende Einblicke in diese außergewöhnliche Jagdtechnik, bei der Mensch, Hund und Greifvogel in perfektem Zusammenspiel agieren. Er erzählt von der intensiven Ausbildung der Adler, den Herausforderungen und der tiefen Verbundenheit zwischen Jäger und Tier – und warum es eine besondere Ehre ist, mit diesen majestätischen Vögeln zu arbeiten.

Wie funktioniert die Adlerjagd?

Ruslan: Zuerst schicke ich den Taigan los. Dieser versucht, das schwächste Glied der Herde oder des Rudels zu isolieren und zu treiben. Danach gebe ich meinem Adler den Befehl, zuzupacken. Der Adler packt im Sturzflug die Kehle der Beute und drückt einfach zu, bis das Tier erstickt. Am Schluss bekommen die Adler immer etwas von der Beute. Diese Belohnung ist ganz wichtig.

Welchen Vorteil hat es, mit Adlern zu jagen?

Die Zusammenarbeit von Hund und Adler ist wunderschön. Zudem möchte ich nicht mit Waffen jagen. Steinadler sind heilig und gehören einfach zu uns Kirgisen. Es ist eine Tradition Zentralasiens und eine unglaubliche Ehre, mit diesen Tieren arbeiten zu dürfen. Adler sind im Sturzflug bis zu 200 Kilometer pro Stunde schnell und können unglaublich rasch
zupacken. Adler bis zu drei Kilometer weit.

Wie lange dauert die Ausbildung eines Jagdadlers?

Zuerst muss man den Adler verstehen und sich mit ihm beschäftigen. Mit wenig Erfahrung erfordert es sicherlich fünf Jahre. Die Adler werden möglichst früh gefangen und dann dressiert. Der Beginn der Ausbildung braucht enorm viel Zeit und Arbeit. Sie sollen sich an meine Stimme gewöhnen und eine Bindung aufbauen – aus diesem Grund bekommen
sie das Futter auch nur von mir. Mit 15 Jahren werden sie aber in die Freiheit entlassen, um eine Familie gründen zu können.

Wie fühlt es sich an, einen Adler wieder in die Freiheit zu entlassen?

Da habe ich immer Bauchweh. Aber es gehört dazu. Der Adler soll seine eigene Familie gründen können. Es wäre viel schlimmer, wenn er hier sterben würde. Der Gedanke, dass er noch weitere Generationen erziehen und ihnen das Jagen beibringen kann, erfüllt mich mit Freude.

Was möchten Sie bei Ihren Vorführungen weitergeben?

Ich möchte den Touristen unsere Tradition und auch unsere Kultur vermitteln. Die Adler sind unsere Freunde und jagen für uns, sie sollen aber nie ausgenutzt werden. So habe ich Karakös vor drei Jahren gerettet. Sie wurde in Tscholponata als Touristenattraktion missbraucht. Als ich sie fand, hatte sie zu lange Krallen und Verletzungen an Flügeln und auch
Beinen. Ich habe sie mitgenommen und zur Jägerin ausgebildet. Mein Wissen zu dieser Tradition gebe ich an meine vier Schüler weiter.

Gibt es auch Adlerjägerinnen?

Frauen können die Technik des Jagens ebenso wie Männer erlernen. Meistens jagen sie aber nicht wirklich. Doch jeder Stamm hat seine eigenen Regeln und auch Bräuche.

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